Warum Politiker es nicht leicht mit der Wahrheit haben

von Matthias Zehnder am 14. März 2025


Warum lügen Politiker?

US-Vizepräsident J.D. Vance sagt, Joe Biden habe die amerikanische Wirtschaft ins Verderben geführt. Das ist eine gewagte Behauptung, denn sie lässt sich rasch überprüfen: Das Gegenteil ist der Fall. Noch nie in den letzten 50 Jahren ging es beim Amtsantritt eines neuen US-Präsidenten der Wirtschaft besser. Das ändert sich zwar gerade rapide, weil die USA unter Donald Trump ökonomisches Harakiri betreiben. Bei Amtsantritt hat die Wirtschaft aber gebrummt. J.D. Vance lügt.

Die zentrale Frage: Warum?

Wie kommt ein Politiker dazu, in einem so einfach überprüfbaren Fall zu lügen? Das Problem ist: Politik hat wenig bis nichts mit Wahrheit zu tun. Wahrheit bedeutet, dass eine Aussage mit der Realität übereinstimmt. Politik aber handelt von der Zukunft, von einer möglichen, wünschbaren oder drohenden künftigen Welt. Über diese künftige Welt lassen sich keine wahren Aussagen machen, weil sie noch nicht Realität ist. Also können Politiker über die Zukunft sagen, was sie wollen.

Die Probleme beginnen, wenn die Gegenwart diese beschworene Zukunft einholt. Dann kommt es zum Lackmustest: Beugt sich die Politik der Wahrheit oder versucht sie umgekehrt, die Wahrheit ihrer Politik zu beugen? An genau diesem Punkt stehen die USA heute.


Der „Misery Index“ als Maßstab

In den USA nennt man es den „Misery Index“ – eine Möglichkeit, den Zustand der Wirtschaft eines Landes in einer einzigen Zahl auszudrücken. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Arthur Okun entwickelte ihn in den 1960er-Jahren. Die Berechnung ist simpel: Inflationsrate + Arbeitslosenquote = Misery Index.

Die beste Note aller Länder erzielt die Schweiz mit einem Index von 3,3. Argentinien liegt mit einem Wert von 173 am anderen Ende der Skala – so sieht wirtschaftliches Elend aus. Die USA befinden sich mit einem Index von 6,9 im vorderen Drittel, hinter Deutschland, aber vor Großbritannien, Dänemark oder Schweden.

Wirtschaftsprofessor Justin Wolfers hat den „Misery Index“ für die USA über 50 Jahre hinweg berechnet – jeweils zum Amtsantritt eines neuen Präsidenten. Das Ergebnis: Noch nie in den letzten 50 Jahren war die US-Wirtschaft bei Amtsübernahme eines Präsidenten so stabil wie unter Joe Biden. Trotzdem behauptet Vizepräsident J.D. Vance: „Joe Biden left this economy in a disaster.“ Die Zahlen belegen: Das ist falsch.


Politik hat wenig mit Wahrheit zu tun

Allerdings nützt es rein gar nichts, einen Politiker der Lüge zu überführen. Denn Politiker haben es nicht mit der Wahrheit – nicht aus Charakterlosigkeit, sondern aus Berufsgründen.

Philosophisch betrachtet gibt es viele Definitionen von Wahrheit. Aristoteles formulierte es in seiner „Metaphysik“ so:

„Über das, was ist, zu sagen, dass es ist, oder über das, was nicht ist, zu sagen, dass es nicht ist.“

Wahrheit bedeutet also, dass eine Aussage mit der Realität übereinstimmt. Doch Politik handelt nicht von der Gegenwart, sondern von der Zukunft – und Aussagen über die Zukunft können nicht wahr sein, sondern nur mehr oder weniger wahrscheinlich.

Sprachmanipulation in der Politik

John Le Carré sagte einmal:

„Ohne klare Sprache gibt es keinen Maßstab für die Wahrheit.“

Die Trump-Regierung durchforstete Webseiten und Publikationen nach „verbotenen Wörtern“ und eliminierte alles, was nicht ins Weltbild passte. Wer die Welt nicht ändern kann, ändert die Sprache – und damit die Wahrnehmung der Welt.


Die Rolle der Medien: Angst als Verkaufsstrategie

Politik und Medien arbeiten mit den gleichen Mechanismen. Sie setzen auf Schlagzeilen, die Angst schüren, zum Beispiel:

  • „Döner-Preisexplosion droht!“Der Rheintaler
  • „Droht der Schweiz bis Ostern eine Eierknappheit?“SRF

Diese Form des „Bullshit-Journalismus“ beschreibt eine mögliche Zukunft, die jedoch nie wahr oder falsch sein kann – nur wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher.

Die Vorteile düsterer Prognosen

  1. Sie sind nicht überprüfbar. Da sie sich auf die Zukunft beziehen, können sie nicht sofort widerlegt werden.
  2. Das Präventionsparadox: Politiker können sich selbst auf die Schulter klopfen und behaupten, ihre Warnung habe Schlimmeres verhindert.
  3. Sie mobilisieren Wähler. Menschen reagieren evolutionär stärker auf negative Nachrichten als auf positive.

Die teuflische Wirkung von Lügen

Die düsteren Zukunftsvisionen beeinflussen nicht nur unser Denken über die Zukunft, sondern auch unsere Wahrnehmung der Gegenwart. Das nennt man Confirmation Bias – den Bestätigungsfehler:

  • Menschen neigen dazu, Informationen so auszuwählen, dass sie ihre eigenen Überzeugungen bestätigen.
  • Je düsterer die Warnung, desto stärker nehmen Anhänger des Politikers sie als Wahrheit an.

Doch irgendwann kommt die Wahrheit ans Licht. Dann stehen Politiker vor einer Entscheidung:

  1. Sie passen ihre Politik an die Realität an.
  2. Oder sie verbiegen die Realität weiter – und beginnen zu lügen.

J.D. Vance hat sich für Option 2 entschieden.


Fazit: Wahrheit oder Totalitarismus?

Politische Weltsichten lassen sich nur begrenzt verbiegen. Die Wirtschaft ist unbestechlich. Wenn Tatsachen und Regierungsbehauptungen nicht mehr übereinstimmen, reagieren Märkte sofort.

„It’s the economy, stupid!“Bill Clinton, 1992

Der „Spiegel“ fragt heute: „Ruiniert Trump die US-Wirtschaft?“ – ein weiteres Beispiel für Bullshit-Journalismus. Die eigentliche Frage lautet: Was passiert, wenn die Realität die Lügen überholt?

Früher oder später kommt es zum Konflikt zwischen Wahrheit und Weltsicht. Gesellschaftliche Wahrheiten lassen sich verschleiern – aber Wirtschaftszahlen nicht. Und wenn Politik ihre eigene Realität erschafft, ist der nächste Schritt nicht Wahrheit, sondern Totalitarismus.

Quellen

  • Arthur Okun: Creator of the “Misery Index” in the 1960s.
  • Justin Wolfers: Economic analysis of US presidential transitions.
  • Der Spiegel: Economic coverage on Trump’s policies.
  • John Le Carré: On the relationship between language and truth.
  • J.D. Vance, U.S. Vice President, speaks at the National League of Cities Congress in Washington on March 10, 2025. Image: KEYSTONE/EPA/Will Oliver
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  • Strohschneider, Peter (2024): Truths and Majorities: Critique of Authoritarian Scientism, 1st edition, original edition, Munich 2024, C.H. Beck [Paperback] 4609.
  • Wikforss, Åsa (2021): Hearsay: Truth-Seeking in a Fact-Hostile World, trans. by Hanna Granz, Susanne Dahmann, 1st edition, German first edition, Hamburg 2021.

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